Re: Abstandsfläche


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Abgeschickt von bodo hermann in gruppe türkis architekten am 12 Januar, 2011 um 14:08:21:

Antwort auf: Abstandsfläche von Michael am 11 Januar, 2011 um 17:46:28:

vielleicht hilft Ihnen das weiter......Zitat:
BayGTzeitung 4/2006 Inhaltsverzeichnis

Abstandsflächen bei Änderung und Nutzungsänderung baulicher Anlagen
Dr. Franz Dirnberger, Bayerischer Gemeindetag

1. Die Problemstellung

Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO – der trotz geplanter umfänglicher Änderungen des Abstandsflächenrechts als Grundpflicht nicht im Feuer etwaiger gesetzgeberischer Ansätze steht – sind vor den Außenwänden von Gebäuden (und baulichen Anlagen mit gebäudegleicher Wirkung, auf deren ausdrückliche Nennung im Folgenden verzichtet wird) Abstandsflächen freizuhalten. Dies gilt in erster Linie selbstverständlich für die Neuerrichtung eines Gebäudes; nach ganz herrschender Auffassung können aber auch Änderungen und Nutzungsänderungen die Rechtsfolge des Art. 6 BayBO auslösen. Jedenfalls nicht vollständig geklärt ist dabei die Frage, was bei solchen Änderungen und Nutzungsänderungen geschieht, die für sich betrachtet abstandsflächenrechtlich ohne Relevanz sind. Dies gilt natürlich besonders für Nutzungsänderungen, die die abstandflächenrechtlich ausschlaggebenden Außenwände gerade nicht verändern, kann aber auch bei baulichen Änderungen denkbar sein, insbesondere wenn die bauliche Änderung so beschaffen ist, dass sie gar keine zusätzlichen Abstandsflächen auslöst (vgl. z. B. Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO) oder wenn die von der baulichen Änderung isoliert einzuhaltenden Abstandsflächen eine geringere Tiefe aufweisen als diejenigen des vorhandenen Bestands.

Problematisch sind vor allem folgende Fallkonstellationen:

Ein Gebäude, das die von den geltenden Abstandsflächenvorschriften geforderten Abstandsflächen nicht einhält, aber insoweit bestandsgeschützt ist (etwa weil es zu einer Zeit genehmigt worden ist, zu der andere Regelungen gegolten haben), soll geändert werden. Können dann für sich genommen abstandsflächenirrelevante bauliche Änderungen dazu führen, dass der Gesamtbestand abstandsflächenrechtlich neu beurteilt werden muss?

Ein Gebäude wird in seiner Nutzung geändert und entspricht – wegen dieser Nutzung – danach nicht mehr dem geltenden Abstandsflächenrecht. Ist dann eine Neubeurteilung in Bezug auf die Abstandsflächen angezeigt?

Bei der nachfolgenden Betrachtung müssen – was im Übrigen sogar in der Rechtsprechung nicht immer trennscharf geschieht – zwei Probleme differenziert betrachtet werden. Die erste Frage lautet, ob in solchen Konstellationen Art. 6 BayBO überhaupt anzuwenden ist, also prinzipiell durch die Änderung oder Nutzungsänderung andere Abstandsflächen mit größerer Tiefe entstehen. Nur wenn dies so ist, stellt sich eine zweite Frage, ob dann – wegen des vorhandenen Bestandes – eine Abweichung nach Art. 70 BayBO in Frage kommt. Diese Unterscheidung ist nicht nur von akademischer Bedeutung. Denn während im Falle der Unanwendbarkeit der Abstandsflächenvorschriften die Änderung oder Nutzungsänderung ohne weiteres zulässig ist, muss die Bauaufsichtsbehörde bei der Zulassung einer Abweichung eine Ermessensentscheidung treffen, deren Ergebnis letztlich von den konkret betroffenen Belangen abhängt.

2. Ein kleiner Überblick über die vorhandene Rechtsprechung

Die Judikate zu dem Thema, ob und unter welchen Voraussetzungen bei Änderungen oder Nutzungsänderungen Abstandsflächen – neu – eingehalten werden müssen, ist sehr reichhaltig und umfänglich. Deshalb soll nachfolgend nur ein kleiner Ausschnitt – mit einem Schwerpunkt natürlich in Bayern - gegeben werden. Auch in den Entscheidungen wird in der Regel zwischen der Fallkonstellation der Änderung und derjenigen der Nutzungsänderung unterschieden.

2.1 Änderungen baulicher Anlagen

Zunächst die Dächer….

Das Urteil des BayVGH vom 20.2.1990[1] beschäftigte sich mit der Errichtung einer 1,20 m hohen und 2 m breiten Gaube auf dem Dach eines Wohnhauses, das – seit je – die nach geltendem Recht notwendige Mindestabstandsfläche von 3 m nicht eingehalten hatte. Der VGH kam zum Ergebnis, dass die zulassende Baugenehmigung die Vorschrift des Art. 6 BayBO nicht verletze. Die Gaube sei für sich genommen abstandsflächenirrelevant. Wenn ein – bestandsgeschütztes - Gebäude, das die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhalte, in seiner äußeren Gestaltung innerhalb der Abstandsfläche in einem genehmigungsbedürftigen Ausmaß geändert werde, bedürfe das Vorhaben nur dann einer Abweichung, wenn die Änderung im Vergleich mit dem bisherigen Bestand insbesondere aus dem Blickwinkel der Nachbarschaft eine nicht unerheblich ungünstigere abstandsflächenrechtliche Beurteilung als möglich erscheinen lasse. Dies bemesse sich nach den mit der Abstandsflächenregelung verfolgten Zielen.

Über die Erhöhung einer Dachneigung eines zu nah an der Grenze stehenden Mehrfamilienhauses von 35 Grad auf 45 Grad – und über die damit verbundene Dacherhöhung von etwa 1,8 m – hatte der BayVGH in einem Beschluss vom 23.5.2005[2] zu entscheiden. Ohne nähere Erläuterung ging das Gericht davon aus, dass – auch ohne relevante Änderung der für die Berechnung der Abstandsflächen maßgeblichen gesetzlichen Parameter – dadurch die Frage der Genehmigung des Gebäudebestandes selbst neu aufgeworfen werde. Auch eine Abweichung kam nach Ansicht des BayVGH wegen Fehlens der dafür erforderlichen Atypik nicht in Frage. In eine ähnliche Richtung ging der Beschluss des BayVGH vom 21.9.1998[3]. Danach soll das Aufsetzen eines Walmdachs mit 40 Grad mit gleichzeitiger Firsterhöhung um 4 m zu einer Verschlechterung der Situation auf dem Nachbargrundstück führen und Anlass geben, die abstandsflächenrechtliche Beurteilung des Gesamtbestandes auszulösen. Die Abweichung dazu fand jedoch Gnade vor den Augen des Gerichts[4].

Einen vergleichbaren Fall hatte das Niedersächsische OVG in seinem Beschluss vom 5.9.2002[5] zu beurteilen gehabt. Dort sollten auf ein Flachdach sog. Spitzdächer mit einer Höhe von etwa 3 m aufgesetzt werden, die wiederum für sich genommen abstandsflächenirrelevant waren. Das OVG kam zu dem Schluss, dass prinzipiell nur die Änderung des Gebäudes für sich betrachtet werden dürfe. Nur dann wenn die „Änderung“ den vorhandenen Baubestand gleichsam nur benutzen und durch den Umbau ein neues Vorhaben entstehen würde, das heißt, wenn der „Umbau“ einem Neubau gleichkäme, sei der Gesamtbestand maßgeblich. Ausschlaggebend dafür sei, zum einen, ob eine statische Neuberechnung erforderlich sei und zum anderen die optische Wirkung der Änderung. Im zugrunde liegenden Fall sah das Gericht keinen Neubau in diesem Sinne.

… und dann die Wände

Mit Gebäudeanbauten an genehmigten, aber dem jetzigen Recht widersprechenden Altbeständen hatten sich bereits vor etwas längerer Zeit zwei Entscheidungen des BayVGH auseinanderzusetzen[6]. In beiden ging es um vertikal versetzte Außenwände; in beiden Fällen kam der VGH zum Ergebnis, dass jeweils eine Gesamtbetrachtung durchzuführen sei, da durch einen Anbau eine neue Außenwand entstehen würde. Daraus folge, dass jedenfalls eine neue und umfassende Prüfung der Abstandsflächen durchgeführt werden müsse[7].

In die gleiche Richtung geht ein Urteil des OVG Berlin vom 21.8.1992[8]. Streitgegenstand war ein Anbau an ein bestehendes, die Abstandsflächen selbstverständlich nicht einhaltendes Gebäude. Für sich genommen war der Anbau abstandsflächengerecht, allerdings löste er nach Meinung des Gerichts eine neue Gesamtbetrachtung aus. Das OVG war der Auffassung, dass eine neue Gesamtprüfung bei Änderungen der Außenwand immer erforderlich sei und nur dann zugunsten der Änderung ausfallen könne, wenn die mit den Abstandsflächenregelungen verfolgten Zwecke – ausreichende Belüftung, Belichtung und Besonnung sowie nachbarlicher Wohnfriede – erkennbar nicht beeinträchtigt seien. Im zu entscheidenden Fall würden insoweit die negativen Wirkungen dadurch verstärkt, dass der seitliche Lichteinfall weiter verringert werde und der optische Eindruck einer beengenden Wirkung noch nachhaltiger werde.

In einem neueren Beschluss vom 27.6.2000[9] hatte der BayVGH eine ähnliche Konstellation zu entscheiden, wobei er ebenfalls eine etwas differenziertere Betrachtungsweise an den Tag legte. Es ging um eine Reihenhausanlage, bei dem eines der Mittelhäuser einen rückwärtigen, über die vorhandene faktische Baugrenze hinausragenden Anbau besaß. An diesen – offenbar genehmigten – Anbau sollte nun eine Außentreppe angebracht werden. Der BayVGH hielt dies abstandsflächenrechtlich für unzulässig. Offen ließ er dabei die – nicht uninteressante – Frage, inwieweit die Abstandsflächenprivilegierung des Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO nur die Einhaltung der Abstandsflächen vor der Wand betrifft, vor die das jeweilige Bauteil oder der Vorbau vortritt, oder ob dies auch gewissermaßen „zur Seite hin“ gilt[10]. Der VGH ging in seiner Argumentation vielmehr davon aus, dass bereits der Anbau eine bauordnungsrechtliche Abweichung benötigt hätte, die aber „versehentlich“ unterlassen worden sei. Falls an dem entsprechenden Gebäude nun Veränderungen vorgenommen würden, müsste jedenfalls dann – erstmals – über die berührten nachbarlichen Belange entschieden werden und zwar auch dann, wenn die Änderung für sich genommen abstandsflächenirrelevant sei. Eine solche Entscheidung über die nachbarlichen Belange sei bei der streitgegenständlichen Treppe gegeben, weil sie die Außenwand des Anbaus vergrößere und durch die erhöhte Einsehbarkeit von der Treppe aus auch die Nutzung des Nachbargrundstücks beeinträchtige.

Noch weiter geht wohl die Entscheidung des ThürOVG vom 14.2.2000[11]. Darin ging es um die Modernisierung und Erweiterung eines die Abstandsflächen nicht einhaltenden Gebäudes, in das Studentenwohnungen eingebaut werden sollten. Unter anderem sollten über die gesamte Länge des vorhandenen Altbaus drei Galerien angebaut werden, über die der Zugang zu den Wohnungen erfolgen sollte. Das ThürOVG war dabei der Auffassung, dass dadurch die Genehmigungsfrage hinsichtlich der Abstandsflächen selbst dann nicht neu aufgeworfen werde, wenn durch die Galerien ein vorspringender - neuer – Gebäudeteil entstehe. Die Galerien veränderten die Abstandsflächentiefe nicht zum Nachteil der Nachbarn und seinen daher abstandsflächenirrelevant. Für eine darüber hinausgehende Wertung der Interessen der Nachbarn sei kein Raum.

2.2 Nutzungsänderungen baulicher Anlagen

Ebenfalls kein völlig einheitliches Bild ergibt sich bei der Betrachtung der Rechtsprechung in Bezug auf die Nutzungsänderung von baulichen Anlagen. Am rigidesten ist offenbar das OVG Schleswig-Holstein[12]. Im Rahmen der entsprechenden Entscheidung sollte ein ehemaliges Werkstattgebäude nunmehr als Büro für die Verwaltung und Vermietung von Ferienappartements genutzt werden. Ohne weitere Begründung geht das Gericht davon aus, dass in einem solchen Fall die Frage der Abstandsflächen neu aufgeworfen werde. Ob die Umnutzung genehmigungsfähig sei, beurteile sich danach, ob eine Abweichung – im entschiedenen Fall eine Befreiung – erteilt werden könne oder nicht, was vom Gericht im konkreten Fall bejaht wurde.

Die übrige Rechtsprechung stellt sich demgegenüber etwas differenzierter dar. Der BayVGH hatte bereits 1979 die Fallkonstellation einer Nutzungsänderung zu entscheiden[13]. Dabei ging es um die Umnutzung eines ehemaligen Stalls in eine Scheune. Der BayVGH ging davon aus, dass bloße Nutzungsänderungen regelmäßig keinen Einfluss auf die Vorschriften über die Abstandsflächen besäßen, weil diese nicht auf die Nutzung von Gebäuden abstellten. Anders verhalte es sich aber, wenn das Gebäude, dessen Nutzung geändert werden solle, nach dem jetzt geltenden Recht nur aufgrund einer Abweichung – nach der seinerzeitigen Begrifflichkeit aufgrund einer Befreiung – zugelassen hätte werden dürfen und zwar unabhängig davon, ob bei der erstmaligen Errichtung des Gebäudes eine solche Abweichung ausgesprochen worden oder überhaupt erforderlich gewesen sei. Jedenfalls könnten in einem solchen Fall die Voraussetzungen für die Erteilung der Abweichung berührt sein und deshalb werde eine – erneute oder erstmalige – Entscheidung über die Abweichung erforderlich.

Ähnlich beurteilt das ThürOVG[14] die Rechtslage. In einem Fall, in dem ein ehemaliges Wirtschaftsgebäude in ein Produktionsgebäude umgenutzt werden sollte, war das Gericht der Auffassung, dass Nutzungsänderungen abstandsflächenrechtlich unerheblich seien, weil Abstandsflächen unabhängig von der Art der baulichen Nutzung der jeweiligen baulichen Anlage einzuhalten seien und auch die Bemessung der einzuhaltenden Abstandsflächen durch die Nutzungsart nicht beeinflusst werde. Der Bauherr könne sich bei Nutzungsänderungen prinzipiell auf den Bestandsschutz der einmal erteilten Baugenehmigung berufen. Etwas anderes gelte nur dann, wenn die beantragte Art der Nutzung der baulichen Anlage – ausnahmsweise – im früheren Baugenehmigungsverfahren für die abstandsflächenrechtliche Prüfung von Bedeutung gewesen sei.

Das Sächsische OVG geht ebenfalls im Prinzip von der Unerheblichkeit von Nutzungsänderungen für die Abstandsflächen aus. Etwas anderes gelte für die Fälle, in denen das Gebäude, dessen Nutzung geändert werden solle, aufgrund einer abstandsflächenrechtlichen Privilegierung oder Ausnahme und Befreiung von den abstandsrechtlichen Vorschriften genehmigt worden sei[15].

Das OVG Münster hatte das Problem der Nutzungsänderung schon relativ früh auf die vergleichsweise griffige Formel gebracht, dass die Genehmigungsfrage in Bezug auf die Abstandsflächen dann neu aufgeworfen werden, wenn die Nutzungsänderung nicht mehr vom Bestandsschutz gedeckt sei und auf wenigstens einen durch die Abstandsvorschriften geschützten Belang nachteiligere Auswirkungen als die bisherige Nutzung habe. Eine solche relevante Änderung sah das Gericht bei der Änderung der Nutzung von einem Feuerwehrhaus in ein Vereinsheim[16] oder in der Umnutzung eines Getränkelagers und eines Trockenraums in ein Wohngebäude[17].

Bei der neueren Rechtsprechung des BayVGH ist keine einheitliche Linie auszumachen. So hat das Gericht bei einer Umnutzung eines Kellergeschosses einer Lagerhalle in ein Billardcafé[18] ausdrücklich Nutzungsänderungen von den Vorgaben des Abstandsflächenrechts freigestellt, es sei denn die Abstandsflächenfrage werde erneut aufgeworfen. Tendenziell anders muss eine Entscheidung des BayVGH[19] interpretiert werden, die sich mit der Umnutzung eines landwirtschaftlichen Nebengebäudes in einen Pferdestall und Ferienwohnungen auseinanderzusetzen hatte. Ohne nähere Begründung beschäftigt sich das Gericht nur mit der Zulässigkeit der Abweichung und geht nicht auf die Frage ein, ob überhaupt eine solche erforderlich gewesen wäre. Im Ergebnis wird die Abweichung aber als rechtmäßig erachtet, weil die Situation insbesondere in Bezug auf die nachbarlichen Belange durch die Änderung der Nutzung nicht nachteilig verändert werde. So muss auch eine Entscheidung des BayVGH vom 29.9.1999 verstanden werden, die allerdings eine Abweichung beim Einbau einer Wohnung in das Obergeschoß einer Scheune nicht mit den nachbarlichen Belangen für vereinbar hält[20]. Unentschieden verhält sich schließlich eine Entscheidung vom 19.11.2003[21], die sich mit der Umnutzung von Verkaufsflächen in Flächen für einen Erotikhandel mit Videokabinen und Kino beschäftigt. Hier stellt das Gericht zunächst fest, dass wegen mangelnder Wahrnehmbarkeit allenfalls geringfügige Nachteile für das angrenzende Grundstück – einen Friedhof - zu befürchten seien, so dass die Umnutzung keine negativen Wirkungen auf von den Abstandsflächenvorschriften geschützten Belange habe. Offen gelassen wird jedoch, ob die – erteilte – Abweichung – nur – rechtmäßig war oder ob sie überhaupt nicht hätte erteilt werden müssen.

3. Versuch einer Lösungsstruktur

Betrachtet man die Rechtsprechung und die Literatur zu der Thematik zusammenfassend, lässt sich doch eine recht beachtliche Spannweite jedenfalls im Detail ausmachen. Sie reicht von der – wohl weitesten - Auffassung, dass sogar bauliche Änderungen nicht notwendig zur Neuberechnung von Abstandsflächen führen, bis zur Meinung, dass auch Nutzungsänderungen immer eine Neubetrachtung in Bezug auf die Abstandsflächen erfordern. Selbstverständlich liegt die richtige Betrachtungsweise in der Mitte.

Bei Änderungen von baulichen Anlagen, die die notwendigen Abstandsflächen nicht einhalten, aber bestandsgeschützt sind, ist zunächst zu entscheiden, ob durch den Anbau „bei natürlicher Betrachtungsweise“ eine neue bauliche Gesamtanlage entstehen soll oder lediglich eine auch funktional selbständige, isoliert zu betrachtende Anlage[22]. Wird eine neue einheitliche Außenwand gebildet, muss in einem nächsten Schritt geprüft werden, ob die für die Bestimmung der Abstandsflächen wesentlichen Kriterien verändert werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Außenwand in ihrer Ausdehnung – also Breite mal Höhe – abgeändert oder die Dachneigung – und damit die Firsthöhe - in einer Weise verändert wird, die zu einer veränderten Anrechnung des Daches oder des Giebels führt. Bei Anbauten gilt im Prinzip nichts anderes; in der Regel entsteht dadurch eine neue Außenwand, was zu einer Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung des Altbestandes führt. Nur dann, wenn der Anbau – für sich betrachtet – abstandsflächenirrelevant ist – also etwa im Rahmen des Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO, schließt sich der zweite Prüfungsschritt an.

Bleiben nämlich die abstandsflächenrelevanten Merkmale gleich, gilt eine – allerdings widerlegliche - Vermutung, dass die Änderung als abstandsflächenirrelevant anzusehen ist. Deshalb ist eine Gesamtbetrachtung nur erforderlich, wenn durch die Änderung die durch die Abstandsflächen geschützten Belange in besonderer Weise nachteilig betroffen sind. Dies könnte beispielsweise bei einer Erhöhung der Dachneigung innerhalb des Spielraums zwischen 45 Grad und 75 Grad der Fall sein.

In der Rechtsprechung und im Schrifttum finden sich für die Schwelle einer solchen besonderen nachteiligen Betroffenheit unterschiedliche Umschreibungen, die aber allenfalls in Nuancen voneinander abweichen. Es wird von

einer nicht unerheblich ungünstigeren abstandsflächenrechtlichen Beurteilung[23],

einer Verschlechterung der Situation auf dem Nachbargrundstück[24],

einer erkennbaren Beeinträchtigung[25],

einer negativen Beeinflussung[26] bzw.

einer nachteiligeren Auswirkung auf wenigstens einen von den Abstandsflächenvorschriften geschützten Belang[27]

gesprochen. Den Vorzug verdient wohl die letztgenannte, vom OVG Münster entwickelte Formel, die ausdrücklich auf die insoweit entscheidenden geschützten Belange abstellt.

Änderungen können im Übrigen dann die Abstandsflächenfrage neu aufwerfen, wenn durch die Änderung eine abstandsflächenrechtliche Privilegierung entfällt bzw. Umstände verändert werden, die ursprünglich zu einer Abweichung von den Abstandsflächen geführt haben. Dies wäre beispielsweise beim Einbau einer Feuerungsanlage in eine abstandsflächenprivilegierte Grenzgarage der Fall.

Die letzte Fallgruppe weist gewisse Ähnlichkeiten zur Nutzungsänderung auf. Denn hier gilt allgemein, dass im Prinzip dadurch die Abstandsflächenfrage nicht neu aufgeworfen wird. Deshalb muss bei Nutzungsänderungen immer nur danach gefragt werden, ob ausnahmsweise die neue Nutzung unter Einbeziehung der Zwecksetzungen des Abstandsflächenrechts zu einer zusätzlichen nachteiligen Auswirkung auf das Nachbargrundstück führen kann. Dies ist immer dann der Fall, wenn eine abstandsflächenprivilegierte Nutzung (z. B. bei einer Grenzgarage) in eine nicht privilegierte Nutzung geändert wird oder wenn – wie bei der Änderung eben beschrieben – die Umstände betroffen sind, die zu einer Abweichung von den Abstandsflächen geführt haben. Genau so sind die Fälle zu betrachten, bei denen der Altbestand bereits die Abstandsfläche nicht einhält; hier ist zu prüfen, ob die neue Nutzung eine gegenüber der bestandsgeschützten nachteilige Auswirkungen nach sich zieht.

Soweit also entscheidend ist, ob durch die Änderung oder Nutzungsänderung die durch die Abstandsflächen geschützten Belange in besonderer Weise nachteilig betroffen sind, muss ein kurzer, aber ganz entscheidender Blick auf die Frage gerichtet werden, welche Belange überhaupt einen solchen Schutz genießen. Dies ist beispielsweise für die Gewährleistung einer ausreichenden Besonnung, Belichtung und Belüftung sowie eines ausreichenden Brandschutzes – jedenfalls auf der Grundlage des bisherigen Rechtszustands[28] - unstrittig[29]. Dies führt dazu, dass – im Hinblick auf Belichtung und Besonnung - beispielsweise das Ausmaß einer baulichen Änderung bei der Prüfung von Bedeutung ist. Schwieriger stellt sich die Frage bei dem Belang des störungsfreien Wohnens bzw. des nachbarlichen Wohnfriedens dar. Viele der oben zitierten Entscheidungen gehen selbstverständlich davon aus, dass beispielsweise eine stärkere Einsichtnahmemöglichkeit die von den Abstandsflächenvorschriften geschützten Belange tangiert. Anders sieht dies der VGH Baden-Württemberg, der mit dem Argument, die Nutzung spiele für die Tiefe einer Abstandsfläche keine Rolle, die Sicherstellung eines störungsfreien Wohnens nicht zu den von den Abstandsflächenvorschriften geschützten Belangen zählen will[30]. Dieser Auffassung ist allerdings nicht zu folgen. Die Regelungen der Abstandsflächen öffnen sich selbst an verschiedenen Stellen für die Nutzung der betroffenen baulichen Anlagen (vgl. z. B. Art. 6 Abs. 4 BayBO oder Art. 7 Abs. 4 BayBO) und bringen damit zum Ausdruck, dass Wohnnutzungen oder Aufenthaltsräume einem anderen Abstandsflächenregime unterliegen können und sollen.

Schließlich sei noch die Frage aufgeworfen, ob es – falls durch die Änderung oder Nutzungsänderung eine neue Gesamtbetrachtung hinsichtlich der Abstandsflächen wegen einer nachteiligen Betroffenheit durchzuführen ist – überhaupt noch einen Spielraum für eine Abweichung im Sinne des Art. 70 BayBO gibt. Mehrere der oben referierten Entscheidungen scheinen insoweit der Auffassung zu sein, dass die Prüfung, ob eine Gesamtbetrachtung notwendig wird, und die Frage der Abweichung im Grunde identisch sind. Nach der hier vertretenen Meinung ist dies aber anders. Bei der Prüfung einer möglichen zusätzlichen nachteiligen Betroffenheit geht es lediglich um den Aspekt der durch die Abstandsflächenvorschriften geschützten Belange. Bei der nachfolgenden Entscheidung über die Abweichung müssen demgegenüber alle sonstigen öffentlichen Belange gewürdigt werden, die durch das konkrete Bauvorhaben berührt werden, auch ist das private Interesse des Eigentümers auf eine anderweitige Verwertung einer einmal geschaffenen Bausubstanz zu berücksichtigen. Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar offen gelassen, ob ein solches Interesse durch Art. 14 GG geschützt wird, allerdings müssten berechtigte und mehr als geringfügige Belange entweder des Allgemeinwohls oder eines Nachbarn entgegenstehen, wenn die Umnutzung vorhandener und verwertbarer Bausubstanz verhindert werden solle[31]. Mit anderen Worten sind durchaus Fallkonstellationen denkbar, bei denen zwar durch eine bauliche Maßnahme eine Gesamtbetrachtung der Abstandsflächensituation ausgelöst wird, die entsprechende Änderung oder Nutzungsänderung aber gleichwohl durch eine Abweichung zugelassen werden kann.

1 BayVGH, Urt. v. 20.2.1990 – 14 B 88.02464 -, BauR 1990, 455 = BayVBl. 1990, 500 = BRS 50 Nr. 112.

2 BayVGH, Beschl. v. 23.5.2005 – 25 ZB 03.881 -, BauR 2005, 1515 – nur Leitsatz; ähnlich Sächs­OVG, Beschl. v. 25. 2.1999 – 1 S 61/99 -, SächsVBl. 1999, 139

3 BayVGH, Beschl. v. 21.9.1998 – 2 ZS 98.2484 -.

4 BayVGH, Beschl. v. 9.11.1998 – 2 CS 98.2484 -.

5 OVGNds, Beschl. v. 5.9.2002 – 1 ME 183/02 -, BRS 65 Nr. 117; allerdings unter maßgeblicher Heranziehung der landesrechtlichen Spezialvorschrift des § 99 Abs. 3 NBauO.

6 BayVGH, Beschl. v. 14.7.1986 – 15 C 86.01638 -; Beschl. v. 9.10.1986 – 1 CS/CE 86.02139 -.

7 So auch BayVGH, Beschl. v. 12.7.1999 – 14 B 95.2069 -; ähnlich wohl SächsOVG Beschl. v. 16.2.1999 – 1 S 53/99 -, SächsVBl. 1999, 137; offen gelassen von BayVGH, Urt. v. 20.2.1990 – 14 B 88.02464 -, BauR 1990, 455 = BayVBl. 1990, 500 = BRS 50 Nr. 112, sowie von BayVGH, Beschl. v. 30.7.1998 – 14 ZS 98.1682 – und Beschl. v. 4.11.1998 – 14 ZB 98.1009 -. Vgl. auch BayVGH, Urt. v. 20.12.1988 – 20 B 88.00137 -, BRS 49 Nr. 126.

8 OVG Berlin, Urt. v. 21.8.1992 – 2 B 12.89 -, BRS 54 Nr. 93.

9 BayVGH, Beschl. v. 27.6.2000 – 20 ZB 00.1329 -.

10 So etwa Dirnberger in: Jäde/Dirnberger/Weiß, Die neue Bayerische Bauordnung, Art. 6 Rn. 97; Rauscher in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Art. 6 Rn. 195; a. A. offenbar VGH B-W, Urt. v. 4.3.1992 - 8 S 286/92 -, BRS 54 Nr. 198 = BauR 1992, 750.

11 ThürOVG, Beschl. v. 14.2.2000 – 1 EO 76/00 -, BRS 63 Nr. 133.

12 OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 7.2.1995 – 1 L 41/94 -.

13 BayVGH, Urt. v. 26.11.1979 – 51 XIV 78 -, BRS 36 Nr. 181.

14 ThürOVG, Beschl. v. 25.6.1999 – 1 EO 197/99 -, BRS 62 Nr. 141.

15 SächsOVG, Beschl. v. 15.3.1994 – 1 S 633/93 -, DÖV 1994, 614 = LKV 1995, 119; ähnlich beispielsweise auch BayVGH, Beschl. v. 5.12.2002 – 1 CS 02.1290 – für den Einbau einer Heizungsanlage in eine Grenzgarage.

16 OVG N-W, Urt. v. 13.7.1988 – 7 A 2897/86 -, BRS 48 Nr. 139.

17 OVG N-W, Urt. v. 15.5.1997 – 11 A 7224/95 -, BRS 59 Nr. 144.

18 BayVGH, Beschl. v. 16.2.2004 – 25 CS 03.2706 -.

19 BayVGH, Beschl. v. 22.7.2003 – 15 ZB 02.1223 -.

20 BayVGH, Beschl. v. 29.9.1999 – 26 ZS 99.184 -.

21 BayVGH, Beschl. v. 19.11.2003 – 20 CS 03.2424

22 Reichel/Schulte, Handbuch Bauordnungsrecht, S. 240; Dhom in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Art. 6 Rn. 16.

23 BayVGH, Urt. v. 20.2.1990 – 14 B 88.02464 -, BauR 1990, 455 = BayVBl. 1990, 500 = BRS 50 Nr. 112.

24 BayVGH, Beschl. v. 21.9.1998 – 2 ZS 98.2484 -.

25 OVG Berlin, Urt. v. 21.8.1992 – 2 B 12.89 -, BRS 54 Nr. 93.

26 Dhom in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Art. 6 Rn. 17.

27OVG N-W, Urt. v. 13.7.1988 – 7 A 2897/86 -, BRS 48 Nr. 139.

28 Vgl. aber beispielsweise die Gesetzesbegründung zur Sächsischen Bauordnungsnovelle 2004, die auf der Musterbauordnung fußt und die Belange der Belüftung und der Besonnung nicht mehr einbeziehen will.

29 Vgl. Dirnberger in: Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiß, Die neue Bayerische Bauordnung, Art. 6 Rn. 2 ff.; Dhom in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Art. 6 Rn. 1.

30 VGH B-W, Beschl. v. 10.9.1998 – 8 S 2137/98 -, VBlBW 1999, 26 = UPR 1999, 197 = BauR 1999, 1282 = BRS 60 Nr. 103; a. A. aber VGH B-W, Urt. v 26.11.1986 – 3 S 1723/86 -, VBlBW 1987, 465.

31 BVerwG, Urt. v. 16.5.1991 – 4 C 17/90 -, BVerwGE 88, 191 = DVBl. 1991, 819 = ZfBR 1991, 221 = DÖV 1991, 886 = UPR 1991, 381 = NJW 1991, 3293 = NVwZ 1992, 165 = BRS 52 Nr. 157.




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